„Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“

oder warum Rosa Luxemburg doch Recht hat

„Ihre Freiheit hat nichts mit dem Freiheitsbegriff derjenigen zu tun, die die Unterdrückung der Menschen durch das kapitalistische System bestärken“

Mit diesem Satz hat Rosa Luxemburg Geschichte geschrieben. Dabei war er ihr nur eine Randnotiz wert. Im Jahr 1918 ordnet das deutsche Kaiserreich eine Schutzhaft für Luxemburg an. Ihre Zeit im Gefängnis von Wrocław nutzte die umtriebige Revolutionärin, um sich mit der russischen Oktoberrevolution zu befassen. Hier entsteht ihr Aufsatz „Zur Russischen Revolution“, und nur am Rande notiert sie den berühmten Satz, den Protestierende mehr als ein halbes Jahrhundert später gegen die SED verwenden sollten.

Wer den Satz heute ohne Vorwissen liest, könnte den Eindruck gewinnen, dass sich Luxemburg für Querdenker*innen, Stammtischorchester oder die letzten Verteidiger des Abendlandes einsetzt. „Das wird man wohl sagen dürfen“, hallt es durch den politischen Diskurs des 21. Jahrhunderts. Überhaupt wird die freie Meinungsäußerung von der „Lügenpresse“ beschränkt, deren Geheimwaffe das Canceln ist. Freiheit und freie Meinungsäußerung heißt dort, alles zu sagen, was einem in den Sinn kommt und alles zu machen, was den Einzelnen genehm ist. Man denkt sich als Andersdenkender, ohne aber auf die Folgen acht zu geben, die die eigene Haltung für andere hat. Ganz schön verdreht.

Im Extremfall geht es so weit, die Repression in Kauf zu nehmen, sie sogar zu fordern. Repressive Toleranz hat das Herbert Marcuse genannt und meinte damit eine Toleranz, die so viel zulässt, so oft wegschaut, dass sie wieder in Unterdrückung mündet. Genauso ist das mit den Kurzstreckenflügen, dem ausuferndem Autoverkehr in Großstädten und erst recht, wenn man gegen Migration und grundlegende Asylrechte hetzt. Plötzlich gilt sie dann nicht mehr, die Freiheit der Andersdenkenden.
Geflüchtete wünscht man sich abgeschoben und Aktivist*innen der Letzten Generation hinter Gitter — Versammlungsfreiheit ade!

Tatsächlich lag Rosa Luxemburg eine solche Lesart fern. In ihrem Aufsatz bekräftigt sie den Wert der Freiheit aller und verteidigt sie teils vehement gegen die Bolschewiki. Im Januar 1918 hatten die neue sowjetische Führung von Lenin und Trotzki die Verfassungsgebende Versammlung gewaltsam aufgelöst mit dem Ziel eines Einparteiensystems. Im Text, an dessen Rand Luxemburg das beschworene Zitat kritzelte, kritisiert sie Lenin und Trotzki für die Einschränkungen demokratischer Freiheiten, stellt sich aber nicht auf die Seite der Konterrevolution.

„Freiheit für alle in Verwendung zum Wohl aller, nicht ihr Missbrauch zum Wohle Einzelner – das ist, wofür Luxemburg eintritt.“

Für Luxemburg waren Wahlen, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie lebendiger Meinungskampf die Pflastersteine auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft. Die Diktatur des Proletariats versteht sie nicht als Abschaffung der Demokratie, sondern als eine neue Form ihrer Verwendung. Sozialistische Demokratie ermögliche die aktive Teilhabe der Massen an der Umwälzung der bürgerlichen Verhältnisse, und gerade so erlerne die Gesellschaft den Sozialismus. Eine nachhaltige Revolution, weil sie nicht ständig droht zu scheitern.

Freiheit für alle in Verwendung zum Wohl aller, nicht ihr Missbrauch zum Wohle Einzelner – das ist, wofür Luxemburg eintritt. Ihre Freiheit hat nichts mit dem Freiheitsbegriff derjenigen zu tun, die die Unterdrückung der Menschen durch das kapitalistische System bestärken oder es sich in Überlegenheitsdünkel zur Aufgabe machen, die Massen zu lenken. Unsere Gesellschaft schreibt Freiheit aber buchstäblich falsch. Wer Freiheit schreibt – sollte sie*er auch gute Absichten hegen – wird unweigerlich libertär verstanden. Der Begriff ist falsch besetzt. Deshalb fällt es vielen schwer, Rosas Zitat richtig einzuordnen.

Rosa Luxemburg ist tot, und wir können sie nicht mehr um ein Statement zur Freiheit befragen. Welche Worte sie gewählt hätte, können wir nicht wissen. Was sie über Freiheit gedacht haben mag, lässt sich aber mit einem anderen Autor ihrer Zeit auf den Punkt bringen. Der kommunistische Anarchist Erich Mühsam dachte über Freiheit nach und schrieb noch 1932: „Niemand kann frei sein, solange es nicht alle sind.“ Ganz ähnlich klingt doch, was Luxemburg ihrem berühmten Zitat vorgeschoben hat: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit.“

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