„Was können wir aus der Geschichte lernen?“ – Interview mit der Stolperstein-Initiative-Stuttgart-Ost

Im November 2024 ist die Reichspogromnacht 86 Jahre her. Seit 1998 engagiert sich die Stolperstein-Initiative Stuttgart-Ost für das Gedenken an die Opfer des NS. Über ihre Arbeit haben wir mit Gudrun Greth gesprochen – dabei geht es auch um Hans Gasparitsch. Das Interview wurde geführt von Nick Schindowski.

An den Fensterscheiben des Gasparitsch steht der Frost. Es ist kurz nach Neujahr 24, als ich Gudrun bei uns im Stadtteiltreff begrüße. Ich merke sofort, dass wir ganz andere Erfahrungen mit dem Stuttgarter Osten verbinden. Gudrun lebt schon fast ihr ganzes Leben in Stuttgart und kennt Menschen und Straßen wie ihre eigene Westentasche. Ich dagegen bin im Frühling letzten Jahres zugezogen. Zwischen uns liegen Generationen, und doch setzten wir uns zusammen – es gibt viel Verbindendes.

Kannst du dich an die ersten Jahre der Stolperstein-Initiative erinnern?

Ich habe zwar früh an ersten Veranstaltungen teilgenommen, bin jedoch kein Gründungsmitglied. Die Initiative hatte schon 1998 Vorläufer in der evangelischen Gemeinde in Gablenberg und auch Leute aus dem Kulturtreff S-Ost waren dabei, wie zum Beispiel der Bildhauer Wolfram Isele, der uns von Gunter Demnigs Projekt erzählt hat.

Wie bist du dann dazugekommen?

Ich war im Schuldienst tätig und habe bei Schülerforschungsprojekten mit der Stolperstein-Initiative zusammengearbeitet. Seit 2003 arbeite ich aktiv in der Initiative mit.

Was hat dich dazu gebracht?

Erinnerung und Gedenken waren schon lange ein wichtiges Thema für mich. Als Lehrerin habe ich meinen Unterricht immer um Geschichtsthemen herum aufgebaut, Zeitzeugen eingeladen, darunter auch Hans Gasparitsch, den ich seit meiner Jugend kannte.

Du bist also nicht eines Tages aufgewacht und hast das drängende Gefühl verspürt, dass jetzt mal etwas in Sachen Erinnerungskultur passieren müsse?

Als Lehrerin kam ich 1985 in den Stuttgarter Osten. Die Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur begann für mich sehr viel früher – in meiner eigenen Schulzeit. Ich bin in Untertürkheim zur Schule gegangen mit Kindern von Widerstandskämpfern, mit Jugendlichen, die in der Naturfreundebewegung und politisch aktiv waren. Meine Familie dagegen war im Schwäbischen Albverein. Für mich waren die Naturfreunde aber anziehender, weil politischer. Dort habe ich, wie viele in meinem Alter, Platz für Fragen gefunden, die mir die Eltern nicht beantwortet haben.

Magst du mich kurz mit in diese Zeit nehmen? Wie war das damals?

„Was habt Ihr damals gemacht?“ war eine der vielen Fragen, die wir stellten. Die Antworten empfand ich oft als Lügen oder Halbwahrheiten. Doch umso stärker die Mauer des Schweigens war, desto neugieriger wurden wir! Ich trat den Naturfreunden bei, wo ich von Menschen wie Alfred Hauser und anderen erfuhr, die Widerstand gegen das NS-Regime geleistet hatten, von der NS-Zeit und auch von ihren Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft. Die Frage, warum es überhaupt so weit kommen konnte und wie wir aus der Geschichte lernen können, damit sie sich nicht wiederholt, beschäftigt mich bis heute.

Weshalb dieses Schweigen in deinem Umfeld?

Vielleicht wird das an einem Beispiel aus meiner Schulzeit deutlich: Da saßen Tag für Tag in einem Lehrerzimmer Menschen beieinander, von denen einer statt über Mathe am liebsten von Kriegserinnerungen erzählte. Ein anderer mit bleibenden Schäden aus der Haftzeit in NS-Lagern musste neben dem Kollegen sitzen, der sich als NPD-Vorsitzender von Bad Liebenzell wieder aktiv für eine faschistische Partei einsetzte, für deren Verbot wir auf die Straße gingen. Das war überall so, an allen Arbeitsplätzen, in allen Wohnvierteln, doch eine intensive Aufarbeitung fand nicht statt.

„Was habt Ihr damals gemacht?“ war eine der vielen Fragen, die wir stellten. Die Antworten empfand ich oft als Lügen oder Halbwahrheiten.“

Und Jahrzehnte später bist du bei der Stolperstein-Initiative gelandet …

In Stuttgart gibt es neben unserer Initiative in Ost noch 13 andere. Wir haben alle 2023 gemeinsam unser 20-jähriges Bestehen gefeiert, weil der erste Stolperstein im Jahr 2003 gelegt wurde. Die Initiative-Ost hatte, wie schon gesagt, ihre Vorläufer und hatte ohne Steine begonnen. Anfangs interviewte die Initiative Überlebende jüdischer Familien aus dem Stuttgarter Osten und forschte nach, was mit den jüdischen Menschen, die hier gewohnt hatten, geschehen war. Daraus entstand die Ausstellung „Von Tür zu Tür“ und das erste Stolpersteinbuch. Damals verwendete die Gruppe auch schon den Begriff „Stolpersteine“, doch nur im metaphorischen Sinne.

Die ersten Stolpersteine in S-Ost liegen seit 2003 am Ostendplatz. Selma und Jakob Holzinger haben hier bis zu ihrem Tod eine Praxis geführt.

Hat euch das zu Gunter Demnig geführt, dem Kölner Künstler hinter den Stolpersteinen?

Ja, genau. Wolfram Isele kannte das Projekt von Gunter Demnig und das passte gut zusammen. Die Stolpersteine waren und sind bis heute kontrovers. Es gab jüdische Stimmen, aber auch Stimmen von Sinti, die das nicht wollten. Dann war da noch die Frage, wo man die Steine genau verlegen könnte – müsste man mit allen Hausbesitzer*innen einzeln verhandeln? Im Gespräch mit dem damaligen Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster und Gunter Demnig entschied man sich für den Bürgersteig, also den städtischen Grund. Die Stadt unterstützt das Projekt bis heute, lässt die Löcher für Demnig bohren und springt ein, wenn Gunter Demnig nicht mehr jeden Stolperstein selbst verlegen kann. Damit entstand und wächst ein sehr großes, gespendetes Gesamtkunstwerk der Erinnerungskultur, das in Stuttgart mittlerweile mehr als 1000 Stolpersteine umfasst.

Wie schön, dass sich die Stadt Stuttgart von Anfang an beteiligt hat.

Dazu muss man vielleicht erzählen, dass die Stadt in den 70er-Jahren ein ganz großartiges Projekt eingestampft hat, das der erste Nachkriegsbürgermeister eingeführt hatte: Einladungen an jüdische Überlebende und ihre Familien aus aller Welt zu Gesprächen mit Schulen, dem Besuch der Synagoge und des israelitischen Friedhofs. Dass dieses Projekt beendet wurde, hat damals für viel Kritik gesorgt. Das Interesse bei den Überlebenden und ihren Familien aus aller Welt ist aber ungebrochen. Bei uns melden sich viele Menschen und reisen zu den Stolpersteinverlegungen von weit her an.

Wenn man von der Recherche bis zur tatsächlichen Verlegungszeremonie denkt, wie sieht ein typischer Weg eines Stolpersteins aus?

Einen typischen Ablauf gibt es nicht. In Stuttgart sind wir 14 Stadtteil-Initiativen, von denen jede selbstständig arbeitet. Zwei Mal jährlich sprechen wir uns in Koordinierungssitzungen ab, die Kontakte zu Gunter Demnig und zur Stadt finden ebenfalls koordiniert statt. Wir in S-Ost sind kein Verein. Diese Struktur bietet inhaltlich Freiheit, bringt aber auch finanzielle Einschränkungen mit sich. Alle Inis sind Teil des weltweiten Stolperstein-Projekts, des Lebenswerks von Gunter Demnig und wir halten uns an seine Regeln. Bei der Inschrift der Stolpersteine gibt es immer wieder Diskussionen, aber bei der Recherche sind wir völlig frei. In der halbjährlichen Koordinierungssitzung entscheiden wir, welche Steine wann und wo verlegt werden.

Es beginnt also alles mit der Recherche …

Die Aufgaben innerhalb der Initiative sind vielfältig. Manche recherchieren intensiv, andere kommen nur zu den Besprechungen oder helfen bei den Verlegungen. Die Recherche kann Jahre dauern oder schnell abgeschlossen sein. Oft fragen uns Leute, wie sie überhaupt zustande kommt. Zunächst haben wir die „Judenlisten“ abgearbeitet. Seit 1941 wurden Juden aus den Adressbüchern ausgegliedert und isoliert aufgeführt. Dann recherchieren wir in den Archiven, schauen uns an, wo und wie die Menschen gelebt haben und wie sie verfolgt wurden.

Dabei geht ihr auch immer wieder auf Schüler*innen zu.

Die gemeinsame Forschung mit jungen Menschen ist uns sehr wichtig. Eine Schülerin der Waldorfschule, die ich während der Coronazeit für ein Jahresprojekt begleitet habe, verlegte einen Stolperstein für einen Jungen, der den NS-Krankenmorden zum Opfer fiel. Wolfram Isele macht immer wieder Schülerprojekte im Rahmen der Stolperkunst. Mit der Akademie für gesprochenes Wort machen wir den Podcast gedenkworte und unsere Homepage und ein QR-Code ermöglichen größere Breite.

Wie sieht es bei nicht-jüdischen Opfergruppen aus?

Wir haben lange diskutiert, ob wir auch für andere „Opfergruppen“ Stolpersteine verlegen wollen, wie z.B. politische Verfolgte oder Zeugen Jehovas. Wir haben dann Arbeitsgruppen gebildet, die sich auf bestimmte „Opfergruppen“ spezialisieren, wie Opfer der Krankenmorde, Sinti und Roma oder Zwangsarbeitende. Manchmal ruft jemand an und fragt, ob ein Familienmitglied verfolgt wurde. Solche Hinweise nehmen wir gerne auf, recherchieren und pflegen die Kontakte in alle Welt.

Es gibt also nach wie vor Angehörige, die auf euch zu kommen?

Das kommt eher selten vor. Meist arbeiten wir an unseren Forschungsschwerpunkten.

„In 20 Jahren gelang es, mit den bisher mehr als 1000 in Stuttgart verlegten Stolpersteinen ein riesiges Gedenkkunstwerk zu schaffen, das täglich, im Vorübergehen das Lernen aus der Geschichte ermöglicht. Die Gespräche mit jungen Menschen dazu sind besonders bereichernd.“

November 2023: Schüler*innen begleiteten die Stolpersteinverlegung für Hermann Seitz in der Haußmannstraße 174

Und du bist für den Jugendwiderstand in Stuttgart-Ost verantwortlich. Was hast du darüber entdeckt?

Der Widerstand im Stuttgarter Osten war groß. Meine bisherige Forschung umfasst etwa 200 Menschen und das ist nur ein Teil der antifaschistischen Jugend im Stuttgarter Osten, den ich erforsche. Ein zentraler Punkt meiner Forschung ist Karl Pfizenmaier, ein Kommunist, der über zehn Jahre in NS-Lagern überlebt hat. Nach 1945 wurde er Geschäftsführer der Naturfreunde, bis zu seinem frühen Tod, der auf die Verfolgung zurückzuführen ist. Karl Pfizenmaier wurde am Ostendplatz politisiert, war in kommunistischen Kinder- und Jugendgruppen aktiv, war 1932 zur Ausbildung in Moskau, 1933 im Widerstand in Berlin und überlebte 10 Jahre schlimmster Lagerhaft. Er wohnte nach 1945 hier in Gaisburg. Ich verwalte seinen politischen Nachlass und arbeite an einem Buch über ihn und den Jugendwiderstand im Stuttgarter Osten. In Vorträgen erzähle ich von seinen Erfahrungen, von meiner Forschung von Stuttgart über Berlin bis Moskau und von der Verlegung von Stolpersteinen, die ich in Berlin in seinem Gedächtnis durchführen konnte.

Was sind geeignete Anlaufstellen für eine solche Recherche? Wo liegen die Dokumente, die euch noch heute eine Spur legen?

Sechs Stolpersteine in der Stöckachstraße 28 erinnern an die Familie Schneck, deren Kinder die Ostheimer Schule besuchten.

Die Gestapo-Unterlagen, die im Osten Deutschlands waren, sind größtenteils nach Moskau gelangt. Wichtige Archive befinden sich in Ludwigsburg und Stuttgart. Im Staatsarchiv Ludwigsburg liegen die Wiedergutmachungs-, Passakten und Akten von Personen, die im öffentlichen Dienst arbeiteten. Das Hauptstaatsarchiv Stuttgart enthält Dokumente von Parteiorganisationen und Zeitungsartikel über wichtige Ereignisse. Im Stadtarchiv Stuttgart findet man persönliche Nachlässe und städtische Ereignisse. In kirchlichen Archiven findet man Geburts- und Heiratsurkunden und Informationen über sogenannte „Mischehen“ und Konversionen von jüdischen Menschen zum Schutz vor Verfolgung.

Welche Geschichten hast du auf diese Weise entdeckt?

Ein Mann aus Schwaikheim kontaktierte mich, als er hörte, dass in seinem alten Haus Kommunisten gewohnt hatten.
Meine Forschung ergab, dass es sich um zwei bemerkenswerte Frauen und ihre Männer handelte, deren Gablenberger Wohnung konspirativ genutzt wurde. Später wurde ihnen vorgeworfen, sie hätten dort Sprengstoff deponiert. Die Familien zogen nach Schwaikheim und verteilten dort nach 1933 noch antifaschistische Flugblätter. Das örtliche Archiv zeigte kein Interesse an dieser Geschichte, doch der heutige Hausbesitzer möchte nach unserer Recherche eine Plakette an seinem Haus an anbringen.

Ich kann mir vorstellen, dass eine solche Forschung von Hindernissen geprägt ist.

Ja, das kann vorkommen. In der Forschung treffen wir immer wieder auf Herausforderungen, die aber von Fall zu Fall anders sind. Nehmen wir zum Beispiel die Krankenmorde der Nazis. Die Familien wussten oft nicht, was mit ihren Angehörigen passiert war, aus Angst und Scham wurde viel geschwiegen. Oft nutzten die Nazis Diagnosen wie Schizophrenie, um unliebsame Personen zu ermorden. Unsere Arbeit kann also auch hilfreich sein für Familien. Wir wissen inzwischen viel besser, wie wir NS-Dokumente lesen und interpretieren müssen.

Sind die Nachfahren immer mit euren Nachforschungen einverstanden?

So klar kann man das nicht sagen. Es gibt zum Beispiel erst wenige Stolpersteine für homosexuelle Männer und Frauen. Manche Familien möchten nicht, dass deren Verfolgung öffentlich gemacht wird. Ähnlich verhält es sich bei Kriegsdienstverweigerern oder Deserteuren. Für den jungen Karl Klett, der aus einer kinderreichen Ostheimer Familie stammte, den Krieg nicht mehr mitmachen wollte und abhaute, wird im März ein Stolperstein in der Leo-Vetter-Str. 1 verlegt. Klett haben sie in Wien geschnappt, verurteilt und erschossen.
Menschen, die die Nazis als kriminell oder arbeitsscheu bezeichneten, sind so stigmatisiert, dass die Familien sich vielfach bis heute schämen. Wir respektieren es, wenn Nachkommen die Stolpersteinverlegung ablehnen.

Wenn die lange Forschung ohne erhofftes Ergebnis bleibt, muss das doch frustrieren. Und doch seid ihr seit mehr als 20 Jahren am Forschen. Wie bleibt man am Ball?

In 20 Jahren gelang es, mit den bisher mehr als 1000 in Stuttgart verlegten Stolpersteinen ein riesiges Gedenkkunstwerk zu schaffen, das täglich im Vorübergehen das Lernen aus der Geschichte ermöglicht. Die Gespräche mit jungen Menschen dazu sind besonders bereichernd. Viele sprechen die aktuelle Situation in der Welt – Ukraine, Israel, Gaza – an und immer stellt sich die Frage: Was können wir aus der Geschichte lernen?

Auch wir hatten beim Blättle überlegt, Krieg und Frieden in den Mittelpunkt zu stellen. Das Thema beschäftigt …

Das merkt man auch bei uns in der Stolperstein-Initiative. Wir haben teilweise sehr unterschiedliche Positionen: Es gibt sowohl Pazifisten, die jeglichen Krieg ablehnen, als auch die Meinung, wir hätten heute noch den Hitler-Faschismus, wenn die Alliierten nicht mit der Waffengewalt eingegriffen hätten.

Das ist sehr radikal ausgedrückt. Aber die Gefahr sehe ich auch.

Für mich als Pazifistin ist letztes ein „Totschlagargument“ und dennoch wichtig zu diskutieren, denn wir sind hier bei einer extrem schwierigen Frage.
Persönlich habe ich eine humanistische Haltung.
Ich habe einen Sohn – Jahrgang 1985 – und habe immer gewusst: Den gebe ich nicht freiwillig zum Kriegsdienst.

Sehr verständlich, und ich, Jahrgang 97, würde nicht freiwillig zur Bundeswehr gehen. Die Diskussionen um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht erschrecken mich.

Wichtig in Frage um Krieg und Faschismus ist es, im Austausch zu bleiben und unabhängig von Unterschieden immer wieder die gemeinsame antifaschistische Grundlage zu suchen, im Gespräch zu bleiben.

Da stimme ich dir zu. Nur: Wie gelingt das?

Da gibt es sicherlich verschiedene Ansätze. Wir organisieren Veranstaltungen, manchmal auch gemeinsam mit dem Hotel Silber e.V., in dem wir Mitglied sind. So bringen wir Erinnerungen zurück und ermöglichen ein aktuelles Lernen aus der Geschichte.
Das gemeinsame Gedenken an die Malerin Käthe Loewenthal, für die wir vor Jahren einen Stolperstein in der Ameisenbergstraße verlegt haben, findet dieses Jahr zusammen mit dem Projekt „Der Liebe wegen“ und dem Weißenburgzentrum statt. Wir streben möglichst breite Bündnisse auf antifaschistischer Basis an.

Wir haben in der Redaktion viel nachgedacht. Hans Gasparitsch gehört ja auch zu den Überlebenden und mit diesem Stadtteiltreffen gedenken wir ihm. Doch auch darüber hinaus haben wir uns gefragt, wie uns das Erinnern an sein Leben und seine Geschichte gelingen kann.

Da möchte ich dir gerne eine persönliche Erinnerung an Hans Gasparitsch erzählen.

Bitte, gerne!

Hans organisierte früher Rundgänge durch den Stadtteil. Als Schülerin war ich von seinen Erinnerungen ebenso fasziniert wie Jahre später meine Schülerinnen und Schüler. An der Ostheimer Schule erklärte er immer, dass er nicht auf das Turmstüble der Schule durfte, weil er nicht getauft war. Als Lehrerin habe ich ihm versprochen: „Hans, wenn ich hier jemals arbeiten sollte, gehen wir zusammen ins Stüble.“ Drei Monate nach seinem Tod habe ich die Schulleitung in Ostheim übernommen. Das Turmstüble war voller Tauben und ihren Hinterlassenschaften. Ich gewann Jugendliche für eine AG zur Forschung an der Schulgeschichte. Wir untersuchten das Schicksal von Schülerinnen und Schülern, die in der NS-Zeit verfolgt wurden, renovierten das „Hans-Gasparitsch-Stüble“ im Turm und zeigten darin eine Ausstellung, die an die in der NS-Zeit verfolgten Sinti erinnerte. Die ehemalige Ostheimer Schülerin und Überlebende Elisabeth Guttenberger, die als einzige ihrer Familie Auschwitz überlebte, besuchte die Ausstellung. Ein Kunstprojekt zu ihrem Bruder Donatus Schneck folgte, das heute noch in der Ostheimer Schule zu sehen ist. Hans Gasparitsch erzählte in seinen Erinnerungen auch, dass er seinen jüdischen Mitschüler Richard Peritz in Dachau traf. Wir verlegten für die ermordeten Mitglieder der Familie Peritz in Gaisburg Stolpersteine.

Eine eindrückliche Geschichte, danke dafür.

Wir haben bei der Stolperstein-Initiative darüber gesprochen, ob für Hans Gasparitsch ein Stolperstein verlegt werden soll. An einem Haus, in dem auch Hans Gasparitsch mit seinen Eltern gewohnt hat, haben wir im November einen Stolperstein für Hermann Seitz verlegt, der am 30.11.1944 in Dachau ermordet wurde – „im Zusammenhang mit der Schlotterbeck-Gruppe“ wie die Nazis sagten.
Da wir erfuhren, dass eine Stolpersteinverlegung von Hans Gasparitschs Familie nicht gewünscht ist, stellten wir das zurück. Es ist sicher nicht leicht, mit einem Vater aufzuwachsen, der immer wieder in gestreifter Häftlingskleidung an Demonstrationen teilnimmt, sich der Gefahr erneuter Verhaftung aussetzt. Schon 1979 forderte er vor dem Hotel Silber in einer Ansprache, die ehemaligen Gestapozentrale zu einer Gedenkstätte oder einem Archiv des Widerstands umzugestalten. Dabei können die Nachkommen der Widerstandskämpfer wahrlich stolz auf ihre Eltern sein.
Ihr habt mit dem Stadtteilzentrum Gasparitsch einen sehr würdigen Ort geschaffen, der Hans Gasparitsch bestimmt gefallen hätte. Hans legte großen Wert darauf, junge Leute anzusprechen und vertraute auf ihre Kraft.

Das hoffe ich wirklich. Schön, dass du uns hier besucht hast.


Jubiläumsbroschüre: „Stein für Stein – Menschen ihren Namen wieder geben“

In ihrer „Jubiläumsbroschüre „Stein für Stein – Menschen ihren Namen wieder geben“ erzählt die Stolperstein Initiative von ihrem Projekt und seinen Ergebnissen. Man erhält sie auf Anfrage im Weltladen Stuttgart-Ost oder über info@stolpersteine-stuttgart-ost.de