Im ersten Teil des Artikels haben wir die Entwicklungsgeschichte Stuttgart-Osts von den Anfängen bis hin zur Entwicklung als „Hort“ der Arbeiter*innenklasse Anfang des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet. Weiter geht es in diesem Artikel mit der Entwicklung des Stuttgarter Osten ab 1914.
Der 1. Weltkrieg
Um die Auswirkungen des 1. Weltkriegs auf den „roten Osten“ besser einordnen zu können müssen wir etwas ausholen. Im Vorfeld des 1. Weltkriegs – also nach der Ermordung des Thronfolgers Österreich-Ungarns im Juni 1914 – wurde im deutschen Reich eine Mobilmachung für den Krieg losgetreten, die bis dato seinesgleichen suchte. Es wurde versucht mit der Notwendigkeit des Krieges in der Bevölkerung eine regelrechte Euphorie auszulösen. Dies führte sogar dazu, dass Teile der Arbeiter*innenbewegung in die angebliche Verteidigung der Ehre von Österreich-Ungarn mit einstimmte und nicht nur den ausgerufenen Burgfrieden zwischen den Ausgebeuteten und Ausbeutern unterstützte, sondern auch den Kriegskrediten zustimmte, die am 4. August 1914 verabschiedet wurden. Dies stellte in der Geschichte der europäischen Arbeiter*innenbewegung eine Zäsur dar1Dies führte auch zum Zerbrechen der 2. Internationalen / sozialistischen Internationalen. und führte zu einer Spaltung zwischen denen, die zur „Vaterlandsverteidigung“ den Krieg und das unendliche Leid guthießen und denen, die weiterhin an sozialistischen Inhalten festhielten und sich von der Sozialdemokratie trennten.
Es ließe sich vieles über die Zeit des ersten Weltkriegs und deren Auswirkung auf den Stuttgarter Osten schreiben. Da das den Rahmen des Artikels sprengen würde hier nur in aller Kürze: Das Leid des Krieges ging natürlich auch nicht an den Familien in Stuttgart-Ost vorbei und hinterließ über Jahrzehnte Spuren.
Der ursprünglichen Begeisterung folgte bald Ernüchterung durch die Gräuel des Krieges und die konkrete Erfahrung mit Toten. Kaum eine Familie hatte keinen Verletzten oder Toten zu beklagen.
Angesichts des langandauernden Kriegs, des damit verbundenen Hungers und Elends der Bevölkerung, setzte sich im gesamten Deutschland ein revolutionärer Elan frei, was zur Novemberrevolution 1918/1919 führte.
Der Elan, der natürlich auch auf Stuttgart überging, zeigte sich in Massenversammlungen und dem Versuch soziale und politische Verbesserungen zu erkämpfen. Die SPD hatte indes vollends die Seite der Barrikade gewechselt, wurde von der Partei der Ausgebeuteten zur Partei der Ausbeutenden und begann die Massenversammlungen anzugreifen.
In Stuttgart kam es zu Massendemonstrationen, Auseinandersetzungen zwischen Polizei und DemonstrantInnen und schließlich wie auch in zahlreichen anderen Städten Deutschlands zur Novemberrevolution Ende 1918/Anfang 1919, der die korrumpierte Regierung der SPD stürzen sollte.
Tausende von Menschen folgten den zahlreichen Aufrufen sich am Ostendplatz zu treffen und gemeinsam in die Stadt zu ziehen, um sich dort mit anderen Demonstrationszügen zu treffen.
Um die Jahreswende 1918/1919 wurde die Teilung der Arbeiter*innenbewegung offenbar mit der Gründung der KPD.
Wie im restlichen Deutschland wurde die SPD zum Bluthund und ließ als herrschende Partei, Versammlungen blutig niederschlagen, bei denen zahlreiche Menschen starben. So auch in Stuttgart-Ost: Im Januar 1919 starb während Auseinandersetzungen bei einer Versammlung der 17-jährige Kommunist Karl Fetzer. Er wurde bei einer großen Beerdigung auf dem Bergfriedhof beigesetzt.
Dies setzte sich auch bei einem versuchten Generalstreik im April 1919 fort, bei dem es zu mehreren bewaffneten Auseinandersetzungen und zu Todesopfern kam.
Die Aufstände wurden zwar niedergeschlagen, der widerständige Geist des roten Ostens aber noch lange nicht am Ende.
Im Nachgang des 1. Weltkriegs
In den nächsten Jahren verbreitete sich das Elend und die Not der Bevölkerung enorm: Arbeitslose mussten durch die Straßen wandern und um Brot oder Geld betteln und Hunger war an der Tagesordnung der meisten ArbeiterInnenfamilien. Dies führte zu zahlreichen Auseinandersetzungen, die oftmals mit harter Repression beendet wurden. So kam es 1923 zu großangelegte Razzien v.a. gegen Mitglieder der KPD bei denen zahlreiche Arbeiter*innen aus Stuttgart-Ost betroffen waren.
Ein wichtiger Treffpunkt der Arbeiter*innenbwegung im Osten war das Gasthaus „Volksgarten“ direkt am Ostendplatz. Der Volksgarten diente sowohl als sozialer, als auch als politischer Treffpunkt. So trafen dort sich viele Arbeiter und Arbeiterinnen, um zu diskutieren, aber oft wurde der Volksgarten selbst zum Schauplatz von Auseinandersetzungen.
Auch am 1. Mai diente der Ostendplatz als zentraler Treffpunkt, um zuerst gemeinsam in die Stadtmitte zu ziehen und danach im Waldheim Gaisburg den 1. Mai ausklingen zu lassen.21932 wurde mit dem Waldheim Raichberg dann das sozialdemokratische Pendant zum Waldheim Gaisburg aufgebaut.
Als die Faschisten die Macht übernahmen…
Der Stuttgarter Osten blieb dabei auch mit dem Aufkommen der Faschisten ein Hort der Arbeiter*innenbewegung, die den Widerstand gegen faschistische Schlägertrupps und gegen den Faschismus organisierten.
Bald gab es verschiedene Widerstandsgruppen, die gegen die Faschisten informierten, mobilisierten und Aktionen organisierten. Darunter die Gruppe G (in der auch unser Namensgeber Hans Gasparitsch aktiv war) und die Widerstandsgruppe Schlotterbeck aus Bad-Cannstatt. Bald gab es auch eine Sektion des Rot Front Kämpferbundes der KPD
und es gründeten sich die Schwarzen Rebellen, die gegen faschistische Kräfte vorgingen und Schutz vor den Schlägertrupps der SA organisierten. So kam es häufig zu blutigen und auch tödlichen Zusammenstößen von Faschistentrupps mit dem RFB, den schwarzen Scharen und auch Einzelpersonen.
Aktionen der Ost-Bevölkerung gegen die Faschisten fanden auf verschiedene Weise Ausdruck:
- Es wurden nächteweise illegal Flugblätter gedruckt und an die Bevölkerung verteilt.
- Es wurde fortschrittliche Literatur geschmuggelt und verteilt.
- Im Februar 1933 fand das „Kabelattentat“ in der Werderstraße 5 statt, bei dem die Propaganda-Rede Hitlers in der dortigen Stadthalle durch das Zerschneiden eines Kabels verhindert werden konnte. Die Rede sollte zum ersten Mal über den Rundfunk übertragen werden. Durch das „Kabelattentat“ wurde die Übertragung verhindert – leider erst zum Ende der Rede hin.3Wer mehr darüber erfahren möchte, dem sei der Tatsachenroman „Ein Beil gegen Hitler“ von Rolf Schlenker ans Herz gelegt.
- Die Gruppe G organisierte die Jugend gegen den Faschismus, verbreitete Informationen und warnte vor dem Krieg. Mit über 20 Gruppen verbreiteten sie sich schnell und fanden großen Anklang bei Jugendlichen.
- Im März 1935 organisierte die Gruppe G eine Aktion, bei denen u.a. Hans Gasparitsch an die Rossebändiger im unteren Schlossgarten die Parolen „Rotfront“ und „Hitler = Krieg“ malte. In dessen Folge wurden er und zahlreiche andere Jugendliche der Gruppe G verhaftet und verurteilt.
Trotz des vielfältigen Widerstands konnte dem faschistischen Treiben nur wenig entgegengesetzt werden, Deportationen und Hinrichtungen fanden statt und der zweite Weltkrieg brach sich mit all seinen Gräuel und dem letztlichen Zivilisationsbruch der Shoa seine Bahnen – auch durch den Stuttgarter Osten.
Auch für die Arbeiter*innenbewegung bedeutete dies einen herben Einschnitt, zahlreiche aktive Arbeiter*innen wurden verschleppt, verurteilt und kamen in KZs zu Tode. Darunter auch bspw. Theodor Decker, der im Betriebsrat der Post aktiv war, ein stadtbekannter Aktivist und Kommunist, Kopf hinter dem Kabelattentat 1933, Mitglied der Revolutionären Gewerkschafts-Opposition war und schließlich verhaftet und ins KZ verschleppt wurde. Oder auch Hans Gasparitsch, der nach der Aktion an den Rossebändigern verhaftet und erst mit der Befreiung von Buchenwald wieder auf freien Fuß kam. Um nur zwei von leider unzähligen Beispielen zu nennen.4Hier sei auf die Initiative Stolpersteine Stuttgart-Ost verwiesen, die auf viele der Schicksale aufmerksam macht und immer wieder Verlegungen von neuen Stolpersteinen veranlasst.
Nichtsdestotrotz überlebte der rote Geist auch die Gleichschaltung und Vernichtung durch die Faschisten. Nach der Befreiung kehrten einige der „Roten“ (wie z.B. Hans Gasparitsch) wieder zurück und engagierten sich auch weiterhin gegen Krieg, Ausbeutung, Unterdrückung und für eine bessere Welt.
Stadtteilgebiete im Überblick
Entstanden ist der Stadtbezirk 1956 im Rahmen der Einteilung der Stadt Stuttgart in Bezirke. Im Stadtbezirk Stuttgart-Ost wurden fortan die 5 Stadtteile Berg, Frauenkopf, Gablenberg, Gaisburg und Ostheim zusammengefasst. Erst 2001 wurden im Rahmen der Neugliederung der Stuttgarter Stadtteile die Stadtteilnamen reaktiviert, sowie drei weitere Stadtteile zum Stadtbezirk hinzugeführt: Mit der Gänsheide, dem Stöckach und der Uhlandshöhe wuchs der Stadtbezirk Stuttgart-Ost auf insgesamt acht Stadtteile. Im ersten Teil des Artikels wurden mit Berg, Frauenkopf, Gablenberg und Gaisburg die ersten vier Stadtteile vorgestellt. In diesem Artikel folgen die nächsten und letzten 4 Stadtteile.
Ostheim
Als Antwort auf die rasant wachsenden Einwohnerzahlen im 19. Jahrhundert und der sich immer stärker ansiedelnden Industrie (Ziegeleibetrieb, Geldschrank- und Schlossfabrik, Korsettfabrik, Bettfedernfabrik, später auch eine Zigarrenfabrik, eine Stickwarenfabrik und die Straßenbahn) entstand der „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ (der Vorläufer des heutigen „Bau- und Wohnungsverein“) unter der Leitung von Eduard Pfeiffer. Sein Ziel war es Wohnungen für Arbeiter*innen in Stadtnähe zu schaffen. Es sollten Häuser für zwei bis drei Familien entstehen mit einem Gartenanteil. Hierfür kaufte der Verein ein Gelände zwischen Berg und Gaisburg und ließ dort allein zwischen 1891 und 1903 um die 1300 Wohnungen errichten, die es den Arbeiterfamilien ermöglichte, stadtnah, aber dennoch im Grünen zu wohnen.5Dies geschah nicht nur aus reiner Wohltätigkeit, sondern auch um soziale Konflikte präventiv zu entschärfen, die durch die prekäre Wohnsituation entstehen könnten.
Die Siedlung dehnte sich schnell aus und es kamen schnell neue Siedlungen dazu wie bspw. 1910 die Straßenbahnersiedlung.
So entstand mit Ostheim der Kern des Stuttgarter Ostens.
Gänsheide
Die Gänsheide waren bereits zur Römerzeit besiedelt, so wurden Münzen aus dem 2. oder 3. Jahrhundert nach Christus gefunden. Auch der König Rudolf von Habsburg schlug hier im 13 Jahrhundert sein Lager auf. Als Name taucht der Name Gänsheide 1530 auf. Im 18. Jahrhundert wurde das Gebiet aufgeteilt und als Gartenland vor allem an Stuttgarter und Gablenberger Bürger verkauft.
Ende des 19. Jahrhunderts entstand hier die Villa Wagenburg, um die sich immer mehr Villen formierten und immer mehr zum „Villenquartier“ wurde. 1910-13 entstand in der Heinestraße (heute Richard-Wagner-Str.) die Villa Reitzenstein, seit 1922 Regierungssitz.Bereits um 1930 war die Besiedelung des Gänsheide abgeschlossen.
Mit den Stadtteilen Gaisburg, Berg, Gablenberg, Ostheim, Frauenkopf, Stöckach und Uhlandshöhe bildet sie seit 2001 den inneren Stadtbezirk Stuttgart-Ost
Stöckach
Als Name taucht Stöckach zum ersten Mal 1334 auf. Im 16. Jahrhundert wurde hier vor allem krankes Vieh gehalten, das von anderen Herden getrennt werden sollten. Die einzigen Gebäude blieben über Jahrhunderte ein paar kleinere Ställe und Heuschober.
1868 wurde die Pferdebahn zwischen Stuttgart und Berg in Betrieb genommen und gab den Anstoß dazu, dass im Gebiet rund um den Stöckach gebaut wurde. So entstanden bereits 1869 und 1870 die ersten Wohnhäuser an der Neckarstraße und kurz darauf in der Stöckachstraße, in der Metzstraße, Sedanstraße, Werderstraße und Villastraße. Kurz darauf entstanden auch die ersten Kirchen, Schulen, eine elektrische Zentrale zur Stromerzeugung, eine Sportanlage und zahlreiche Industriebetriebe, wie bspw. eine Eisengießerei oder eine Zigarrenfabrik und 1930 ein Telegrafenamt. 1960 wurde der Nesenbach von der Heilmann- bis zur Villastraße verdohlt.
Uhlandshöhe
Bis weit ins 19. Jahrhundert prägten Weinberge und Steinbrüche das Bild des Stadtteils. Ende des 19. Jahrhunderts entstanden dann zahlreiche Villen rund um den damaligen Kanonenweg (heutige Haußmannstr) oder an der Ameisenbergstraße. Bereits 1862 entstand die Parkanlage Uhlandshöhe, die bald darauf dem gesamten Berg den Namen verlieh. 1893 entstand ein begrünter Wasserbehälter.
1919 entstand hier mit der „Freien Waldorfschule Uhlandshöhe“ die Keimzelle aller Waldorfschulen weltweit. Rund um die Waldorschule haben sich weitere antrosophische Institutionen gegründet, weswegen der Gegend auch der Beiname „Anthroposophenhügel“ verliehen wurde.